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Die Dynamische Ordnung der Kunstbibliothek

Welche Rolle spielen digitale Innovationen in der konventionellen, haptischen Welt? Für die Gedächtnisinstitutionen wie Bibliotheken, Archive und Museen, die täglich Objekte und Dokumente sammeln, stellt sich die Frage mit einiger Dringlichkeit. Speziell die Rolle von öffentlichen Bibliotheken wird im digitalen Zeitalter immer wieder thematisiert. Die Trennung von digitalen und analogen Inhalten verschwimmt in dem Masse, wie Nutzer:innen den Zugang zu den Inhalten hauptsächlich über die Suche am Bildschirm finden. Was El Lissitzky bereits 1923 als «Elektro-Bibliothek»1 gefordert hatte, die Ablösung von gedruckten Bögen durch elektronische Medien, ist heute teilweise Realität. Der Inhalt von Bibliotheken und Sammlungen verändert sich, entmaterialisiert sich und verlangt eine neue Ausrichtung des Angebotes und der Dienstleistungen. Eine Herausforderung, der sich die Institutionen durchaus mit Erfolg und neuen, rein digitalen Angeboten stellen.

Die Werkbank
The Werkbank

Die Stiftung Sitterwerk lanciert seit der Gründung 2006 Projekte, die sich konsequent der Entwicklung innovativer Zugänge zu den Inhalten der Sammlungen von Werkstoffarchiv und Kunstbibliothek widmen. So werden diese nicht nur physisch-haptisch, sondern auch im digitalen Raum auf neuartige Weise erfahrbar.23 Zum einen erlaubt die permanente Inventur mithilfe der RFID-Technologie eine stets veränderte Aufstellung der Bücher im Regal, also eine dynamische Ordnung. Zum anderen können die Recherchen auf der interaktiven Arbeitsoberfläche der Werkbank personalisiert, gespeichert und bearbeitet werden. Die Technologie ist jedoch keines Falls reiner Selbstzweck, sondern hilft sie da weiter, wo konventionelle Werkzeuge oder Methoden nicht ausreichen.

1El Lissitzky, «Topographie der Typographie», in: El Lissitzky Maler Architekt Typograf Fotograf, Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1976 (1923), 360.{{Bilder:3}}

2Harald Reiterer, Roman Rädle, Simon Butscher und Jens Müller, «Blended Library – neue Zugangswege zu den Inhalten wissenschaftlicher und öffentlicher Bibliotheken», in: Bibliothek Forschung und Praxis 40(1), 2016, 7–20.

3Juja Chakarova und Allan Mulondo, «RFID-basierte Bibliothekstechnologie – ein Schritt weiter», in: b.i.t.online 20(2), 2017, 120–123.

Permanente Inventur und das Prinzip der Serendipität

Die dynamische Ordnung der Kunstbibliothek und die Idee, die Bibliothek grundsätzlich komplett anders aufzustellen, nämlich auf individuellen Recherchen basierend, resultiert aus der persönlicher Art Daniel Rohners, seine Bücher zu ordnen und zu präsentieren. Der Büchersammler und Stiftungsmitbegründer Daniel Rohner hatte die Gewohnheit, bei der Einrichtung der Bibliothek die Bücher immer wieder im ganzen Raum verteilt, in unerwarteten, aber faszinierenden Kombinationen zu gruppieren, zu stapeln. Eine Aufstellung der Bücher nach konventioneller Bibliotheksordnung boykottierte er stets.

Daniel Rohner
Daniel Rohner

In einem Pilotprojekt wurde der Bestand der Kunstbibliothek schliesslich statt mit Signaturetiketten mit RFID-Tags versehen.4 5 Diese Funketiketten lassen sich von einer Antenne mittels Radiowellen gezielt aktivieren, sodass sie mit einem Signal antworten. Damit werden die Etiketten und mit ihnen auch die Bücher identifiziert. Um die RFID-Tags einzulesen, wird eine Leseantenne von einer automatisierten Mechanik jede Nacht auf einer Schiene langsam an der gesamten Länge des Bücherregals vorbeigeführt, worüber der aktuelle Standort jedes einzelnen Buches ermittelt und in den digitalen Bibliothekskatalog eingespiesen wird.6

Mobile Leseantenne
Mobile Reader
RFID Etikette
RFID Tag

Diese räumliche Erschliessung des Buchbestandes mittels der RFID-Leseautomatik ermöglicht die Inventur der Bibliothek in so kurzen Abständen, dass man von einer permanenten Inventur sprechen kann. Und das erlaubt auch eine dynamische Ordnung der Bücher: Im Gegensatz zur konventionell mittels Signaturetiketten erschlossenen Bibliothek haben die Bücher in der Kunstbibliothek keinen fixen Standort, jede:r darf sie im Prinzip willkürlich irgendwo ins Regal stellen. Dank der permanenten Inventur bleibt jedes einzelne Buch trotzdem stets auffindbar, da sein Standort der Bücher im Katalog permanent aktualisiert wird.
Die Technologie, Mechanik und Software der dynamischen Ordnung wurde in den Jahren 2006 bis 2010 vor Ort vom Team des Sitterwerk zusammen mit Christian Kern (InfoMedis AG), Boris Brun und Toby Büchel konzipiert und realisiert.

Christian Kern
Christian Kern

Dank der dynamischen Ordnung kann sich die Ordnungsstruktur laufend verändern und den Benutzer:innen anpassen: Wer in der Bibliothek zu einem Thema arbeitet, kann dazu Bücher versammeln und diese Zusammenstellung schliesslich im Regal einordnen. Auch Aktualitäten können über die Anordnung von Büchern illustriert werden – zum Beispiel Bücher und Muster zu Arbeiten, die in der Kunstgiesserei oder im Fotolabor umgesetzt werden. Es können auch einzelne Persönlichkeiten eingeladen werden, ihren Interessen durch individuelle Zusammenstellungen Ausdruck zu verleihen.

David Reinfurt während seinem Aufenthalt im Gästezimmer, Sommer 2015
David Reinfurt

Für die Nutzer:innen der Bibliothek ergeben sich so neue Möglichkeiten des Suchens und Findens von Büchern. Die aktuellen Zusammenstellungen und Büchergruppen in den Regalen erlauben sogenannte [serendipische Entdeckungen]: Auf der Suche nach bestimmten Titeln findet man andere Bücher, die man nicht gesucht hat und die gleichwohl im Fokus des Interesses sein mögen. Das Beispiel der Bibliothek von Aby Warburg liegt hier natürlich auf der Hand: Auch nach nahezu hundert Jahren dient Warburgs Bibliothek immer noch vielen als Fallbeispiel für eine alternative Möglichkeit einer Bibliothek, die anstelle der klassischen alphabetischen, chronologischen oder thematischen Aufstellung eine inhaltlich-persönliche Wissensordnung herstellt – nach Fachwissen und nach sich überschneidenden Themen –, und in welcher der Nachbarschaft der Bücher im Regal eine bedeutende Rolle zukommt.7 8 Die Kunstbibliothek geht hier noch einen Schritt weiter, da die Aufstellung tatsächlich täglich neu personalisiert werden kann.
Auf die traditionellen Bibliothekssignaturen auf dem Buchrücken kann verzichtet werden dank der RFID-Etiketten, die im Innern des Buches eingeklebt sind. Dank modernster Technologie bewahrt das einzelne Buch so seine bibliophilen Qualitäten und seinen individuellen Wert als gestaltetes Medium der Wissensüberlieferung und Informationsvermittlung in einer uralten Tradition. Dadurch und mit der freien Ordnungsstruktur bleibt auch der private Charakter der Sammlung in der Kunstbibliothek erhalten.

4Christian Kern nennt Produkte von 3M, Bibliotheca und Feig Electronic: Christian Kern, RFID für Bibliotheken, Berlin: Springer, 2011, 80.

5Christian Kern, Anwendung von RFID-Systemen, Berlin: Springer, 2006.

6Stiftung Sitterwerk (Hg.), Archive der Zukunft, St.Gallen: Stiftung Sitterwerk, 2013.

7Eva Schmidt und Ines Rüttinger (Hg.), Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?, Heidelberg: Kehrer, 2012

8Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1992.

Sitterwerk-Katalog

Bereits 2010 präsentierte die Stiftung Sitterwerk mit dem Online-Katalog eine innovative räumliche Darstellung der Sammlungsbestände. Eine Suche im Katalog ergab nicht nur die Auflistung der Resultate, die Website zeigte auch die Standorte der Bücher im Regal sowie der Materialien in den Schubladen an. Diese direkte Visualisierung der räumlichen Verteilung der Objekte konnte das Prinzip der dynamischen Ordnung perfekt auch im digitalen Raum abbilden. Zu diesem Zweck wurden Umschlag und Rücken der Bücher bei der Erfassung gescannt. Der Online-Katalog zeigte so bei den Resultaten immer auch das Cover und den Rücken des gesuchten Buches, was die Suche im Regal wesentlich erleichterte. Der Katalog enthielt auch eine Funktion, mit der man eine Liste jener Bücher und Materialien speichern konnte, die auf einem Tisch mit RFID-Leseantennen ausgelegt waren.
2018 erfolgte ein Redesign des Online Kataloges. Einerseits wurden die mittlerweile für die dynamische Ordnung komplementären Zusammenstellungen der Werkbank in den Online-Katalog eingespiesen und durchsuchbar gemacht. Andererseits vermag der Online-Katalog seither eine verbesserte Suche nach Resultaten in beiden Sammlungen, den Werkstoffen und Büchern. Gleich geblieben ist die Hervorhebung der Repräsentation des Bestandes im Raum sowie die Möglichkeit, sich im Katalog auch visuell zu orientieren anhand von Buchcovern oder Fotos von Materialmustern. Suche ist nicht nur über das Suchfeld möglich, sie funktioniert auch ganz intuitiv.

Für beide Websites arbeitete das Team des Sitterwerks eng mit dem Grafiker István Scheibler zusammen, der die Konzeption und Entscheidungen grundlegend geprägt hat.

Suche nach Büchern zum Thema «Wachs» im Sitterwerk Katalog
Search of books to the topic «wax» in the Sitterwerk catalogue
Suche nach Materialmustern zum Thema «Wachs» im Sitterwerk Katalog
Search of materials to the topic «wax» in the Sitterwerk catalogue

Werkbank und Bibliozines

Die Werkbank war ein weiterer Schritt in der Entwicklung des dynamischen Ordnungssystems. Die physischen Archive der Kunstbibliothek und des Werkstoffarchivs werden mit der Werkbank über digitale Werkzeuge auf eine neue Art zugänglich gemacht. Dabei geht es um das Sichtbarmachen von Beziehungen zwischen Büchern und Materialien. Die Werkbank ist ein auf den ersten Blick normaler Tisch, der aber mit viel Technik ausgerüstet ist und über zehn RFID-Antennen verfügt, welche die mit RFID-Etiketten getaggten Bücher und Materialmuster erfassen, die auf der Tischplatte liegen.

Die Werkbank
The Werkbank

Die analoge Auslegeordnung wird so mit der Werkbank direkt in einer digitalen Arbeitsumgebung, der Werkbank, angezeigt. Dort kann die Recherche mit persönlichen Notizen, Fotos und Inhalten aus Büchern oder Quellen aus dem Internet angereichert werden. Als eine Art Produkt dieser wissensvernetzenden Arbeitsweise können die Resultate in eine digitale Layoutvorlage übertragen und in Form eines Heftes, dem Bibliozine, ausgedruckt werden. Dadurch nehmen die Rechercheergebnisse wiederum eine analoge Form an. Sie können als gedrucktes Bibliozine mit einem RFID-Tag versehen in die Bibliothek eingefügt oder für das private Archiv verwendet werden.

Das Werkbank Interface auf werkbank.sitterwerk-katalog.ch
Werkbank Interface on werkbank.sitterwerk-katalog.ch

Die Werkbank versteht sich in einem umfassenden Sinne als interaktive Arbeitsumgebung und ist ein weiterführender Schritt im innovativen Umgang mit dem Werkstoffarchiv, den Beständen der Kunstbibliothek und dem Prinzip der dynamischen Ordnung. Das Projekt führt die digitale und haptische Welt an der Schnittstelle von Benutzer:innen und Medium zusammen. Jede:r einzelne Benutzer:in der Sammlungen ist durch die Arbeit mit der Werkbank an der Weiterentwicklung der dynamischen Ordnung im Sitterwerk beteiligt. Der sensitive Tisch im Umfeld der Kunstbibliothek und des Werkstoffarchivs und nicht zuletzt die Erstellung der Notizen als digitale oder gedruckte Bibliozines sind geeignete Arbeitsinstrumente für Student:innen und Forscher:innen aus diversen Bereichen der Gestaltung, Kunst, Architektur oder Materialkunde.

Bibliozines
Bibliozines

Für die Konzeption und Umsetzung arbeitet das Sitterwerk seit 2013 mit Christian Kern (InfoMedis AG), Anthon Astrom und Lukas Zimmer (Astrom / Zimmer) sowie Fabian Wegmüller zusammen. Die InfoMedis AG ist im Projekt verantwortlich für die RFID-Technologie, Astrom / Zimmer und Fabian Wegmüller für die Bilderkennung sowie die Programmierung und das Layout des Werkbank Interfaces und der Bibliozines. Am 23. November 2014 wurde das Projekt in der Kunstbibliothek Sitterwerk erstmals öffentlich vorgestellt. Es wurde unterstützt durch den Kanton, die Stadt St.Gallen sowie die Steinegg Stiftung, Herisau.

Erweiterung der dynamischen Ordnung

Durch die inhaltliche wie räumliche Nähe zur Kunstgiesserei und das verstärkte Interesse an Arbeits- und Entwurfsprozessen empfiehlt sich eine Ausweitung der dynamischen Ordnung auf die im Areal benachbarten Werkstätten. Die Stiftung Sitterwerk widmet sich deshalb verstärkt Fragen der Prozessdokumentation und -archivierung. In mehreren Projekten zur Weiterentwicklung der Werkbank und des dynamischen Ordnungssystems werden im Austausch und in Kollaborationen mit Künstler:innen, Expert:innen, Student:innen und Wissenschaftler:innen Ansätze erprobt, um den künstlerischen Entwurfsprozess zu erfassen und auf innovative Weise zur Verfügung zu stellen. Übergeordnet geht es somit auch um Fragen des Benennens, Kategorisierens und das Aufbereiten von Wissen. Damit wird über die Erweiterung eines Systems nachgedacht, das herkömmliche Ordnungsstrukturen aufbricht, Dokumentationsverfahren befragt und den Zugang zu Information an Denk- und Arbeitsprozesse knüpft. In einem weiteren Rahmen werden digitale Archivierungs- und Sammlungsstrategien reflektiert. Das Sitterwerk Journal hilft, die Inhalte fortlaufend zu sammeln und zu kommentieren.

Die Weiterentwicklung der Werkbank und der dynamischen Ordnung wird in einer ersten Phase («Weiterentwicklung Werkbank», 2019–2021) vom Lotteriefonds des Kanton St.Gallen, der UBS Kulturstiftung, der Ernst Gönner Stiftung, dem Bundesamt für Kultur, der Steinegg Stiftung und der Lienhard Stiftung und in einer zweiten Phase («Production Stories», 2022–2023) vom Lotteriefond des Kanton St. Gallen unterstützt.

Vergleichende Recherche in den Archiven von Werkstoffarchiv, Kunstbibliothek und Kunstgiesserei